Stories von unterwegs
Wenn man als Junge in den Sechzigern aufgewachsen ist, hat man in der Regel die Bücher von Jack London oder Karl May verschlungen, war fasziniert von den legendären Fernseh-Vierteilern wie ‚Seewolf‘ oder ‚Robinson Crusoe‘. Wenn wir damals unsere Hausaufgaben gemacht hatten, ging es raus ins Abenteuerland, wo Schlittenfahrten, Höhlenerkundungen, Baumhäuser, Felsklettereien, Dammbauten und allerlei andere Herausforderungen warteten. Niemand beaufsichtigte oder kümmerte sich um uns, wir waren frei wie streunende Hunde. Daher ist es wenig verwunderlich, wenn ich in späteren Jahren immer wieder den Lockruf der großen weiten Welt vernahm. Abenteuer wie bei unseren jugendlichen Helden waren dabei zwar eher selten. Aber es hat sie gegeben. Von solchen möchte ich nachfolgend berichten, ebenso wie von besonderen Begegnungen und anderen außergewöhnlichen Erlebnissen.
Wir schrieben das Jahr 1983. Ich hatte mein Studium in einer romantischen mittelhessischen Studentenstadt schnell vorangetrieben und konnte so das sechste Semester ‚blau machen‘. Seit einem Monat war ich nun in Südostasien unterwegs und hatte gerade eine abenteuerliche Tramptour an der Nordküste Borneos hinter mir. Anfang September erreichte ich im äußersten Osten den malaysischen Grenzort Tawau, wo gen Süden der indonesische Teil Borneos begann. ‚Wenn alles gut geht’, dachte ich frohgemut, ‚kann ich noch heute mit dem Küstenboot nach Indonesien übersetzen und nehm’ dort das erste Schiff nach Sulawesi. Mit etwas Glück bin ich übermorgen da.’
Es sollte anders kommen.
Am malaysischen Grenzposten sagte der Beamte: »Westlichen Reisenden ist es aus Sicherheitsgründen nicht gestattet, mit dem Boot nach Nunukan zu fahren. Sie müssen das Flugzeug nehmen.«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein. Was ist denn an einer Bootsfahrt gefährlich? Und was ist, wenn ich das Risiko eingehen will? Ich unterschreibe, dass ich das selber wollte.«
»Vergessen Sie es. So sind die Vorschriften.«
»Und was kostet ein Flug?«
»190 Mark!«
»Waaaas?«, schrie ich aufgebracht, überzeugt, einer üblen Machenschaft zum Opfer zu fallen. Empört redete ich auf den Beamten ein und schon war das Grenzboot weg. »Gehn Sie von mir aus auf’s indonesische Konsulat und versuchen Sie dort ein special boat-permit zu bekommen. Wenn Sie das schaffen, soll’s mir recht sein.«
Erregt eilte ich dorthin, aber es war Samstag und hatte natürlich geschlossen. Einer Empfehlung folgend ging ich zur Polizeistation, wo ich die Nacht auf dem Gang schlafen durfte. Wegen Neonlichtes und lauter Unterhaltung war an Schlaf jedoch kaum zu denken. Am Morgen waren Schlaf- und Rucksack voller Ameisen, selbst in die Unterhose waren sie eingedrungen. Es begann ein missmutiger Sonntag. Erst der Abend brachte einen Lichtblick, als mir einer der Polizisten nach längerer Plauderei ein Empfehlungsschreiben für ein ‚special boat-permit’ ausstellte. In der Nacht legte ich mich – ameisenfrei – hinter die Polizeistation.
Montagmorgen. Um Punkt acht las der indonesische Konsularbeamte das Empfehlungsschreiben, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. »Impossible for strangers! You have to take the plane (unmöglich für Ausländer, Sie müssen das Flugzeug nehmen)!« Nach vergeblichem Widerstand schlurfte ich schlecht gelaunt zum Ticket-Office. »Ein Flugticket nach Nunukan, möglichst heute.«
»Nunukan?« Die Angestellte schaute mich mit großen Kulleraugen an. »In Nunukan gibt es gar keinen Flugplatz. Sie meinen wohl Tarakan.«
»Wie bitte?«
Sie deutete mit der Hand auf die Wandkarte. »Hier liegt Tarakan und nur da gibt es einen Flugplatz.«
»Aber das ist ja fünfmal so weit, ich will doch nur bis Nunukan.«
»Wo ist das Problem? Von Tarakan nehmen Sie die Fähre zurück nach Nunukan.«
Das war ja wohl das Allerletzte! Erst sollte es zu gefährlich sein, mit dem Boot zu fahren und jetzt wurde man gezwungen, die vierfache Strecke zurückzureisen. Nachdem ich mich beruhigt hatte, legte ich zerknirscht 190 Mark auf den Tisch.
»Danke Sir, jetzt fehlen nur noch die 25 Mark Flughafensteuer!«
Ich leistete keinen Widerstand mehr. »So, hier ist Ihr Ticket. Es ist stand-by, denn alle Flüge sind ausgebucht.«
»Wie bitte?«
»Kommen Sie einfach jeden Tag zum Flughafen. Vielleicht klappt es morgen, vielleicht nächste Woche.« Wutentbrannt verließ ich das Ticket-Office und zerschlug Äste an einer Mauer. Passanten hielten mich für übergeschnappt. Dann ging es mit dem Flugticket zum indonesischen Konsulat zurück, das als Draufgabe statt der üblichen zwei nur einen Monat Visum gewährte.
Am Nachmittag entdeckte ich im Restaurant einen dunkelblonden Jüngling, der gerade Tee schlürfte. »Hi, i bin der Helmut aus Bayern«, sagte er, »mei Spezeln nennen mi Hemo.« Bei köstlichem Fisch, gebraten mit Tomaten, Ananas, Reis und Gemüse erzählte er, Geographie für’s Lehramt zu studieren, in einer Band zu spielen und außerdem Hobby-Bergsteiger zu sein. Auch er wollte nach Sulawesi und war somit der ideale Reisegefährte.
Als wir am Dienstagmorgen zum Flughafen kamen, waren alle acht Plätze der Propellermaschine bereits besetzt, doch man quetschte uns einfach zwischen die Gepäckstücke, was uns sehr recht war. Der Flug dauerte eh nur 30 Minuten. Von Tarakan nahmen wir dann das Nachtboot nach Nunukan zurück. Als wir dort ankamen, hatte der Grenzübertritt statt anderthalb Stunden mehr als fünf Tage gedauert. Wir waren daher hocherfreut, als es hieß, ein Frachtkahn namens ‚Nurlima 7’ laufe noch am selben Tag um 17 Uhr nach Paré-Paré auf Sulawesi aus. Endlich ging es zügig voran!
Dachten wir. Wieder sollte es anders kommen. Ganz anders.
Wir betraten die ‚Nurlima 7’ und wurden sogleich von einer neugierigen Menschentraube eingekreist. Selbst das Schälen einer Banane löste bei den Einheimischen Diskussionen aus. Wenn einer den Rucksack öffnete, sprangen sie herbei und schauten hinein, eine Intimsphäre war hier unbekannt. Als ich von einem Einkauf zurückkehrte, war Hemo immer noch umringt, obwohl er die ganze Zeit nichts anderes getan hatte, als ein Buch zu lesen. 17 Uhr. Pünktlich auf die Minute sprang der Motor an. Hemo schaute verwundert herüber: »Ja was is’n des? Mir wern doch net pünktlich abfahrn.« Taten wir auch nicht. Die Abfahrt verzögerte sich von Minute zu Minute, von zehn Minuten zu zwanzig, von einer Stunde zur nächsten, der Motor ging wieder aus, drei Stunden, dann vier und fünf, der Motor sprang wieder an, ging wieder aus, bis wir schließlich am nächsten Tag mit einer Verspätung von 22 Stunden und 54 Minuten ablegten.
Der Grund der Verzögerung lag offensichtlich darin, dass Hafenpolizei und Reederei sich nicht über Zahlungen einig wurden, weil das Boot mit 400 Passagieren hoffnungslos überladen war. Jedenfalls musste kurz vor dem Ablegen die Hälfte der Passagiere wieder von Bord, wobei uns erstaunte, wie gleichmütig sie ihr Schicksal hinnahmen. Dies klärte sich jedoch schnell auf. Kaum war der Hafen außer Sichtweite, tuckerten kleine Bootchen heran und die von Bord Geschickten stiegen wieder zu.
Endlich ging es volle Kraft voraus und bald war kein Land mehr in Sicht. Die Zustände an Bord waren wüst. In den Decks lagen die Menschen in Haufen durcheinander und schwitzten in der brütenden Hitze. Apathisch lagen sie auf dem Boden, kleine Kinder baumelten in Tüchern an der Decke, während es aus einer voll geschissenen Bretternische, die als Bord-WC fungierte, erbärmlich stank. Abends gab es wie gestern und am Morgen Reis unterster Qualität und eine Hand voll bitterer, vertrockneter Fischlein, dazu heißes Wasser. Man schlug sich den Bauch voll und hatte immer noch Hunger.
Hemo und ich lagen an Oberdeck. Hier gab es frische Luft, man sah das Meer und entkam den eingepferchten Massen. »Seltsam«, meinte er, »wieso bleiben’s denn fast alle unter Deck?« Ich zuckte mit den Schultern: »Vielleicht haben sie ein Bedürfnis nach Nähe.«
In der Nacht erhielten wir die Antwort. Das Schiff durchfuhr ein tropisches Unwetter. Eiligst krochen wir aus den Schlafsäcken und rannten zur Luke, doch die war nun fest verrammelt. Ich flüchtete zum Holzverschlag, doch der war bereits voll. Der Sturm blies den Regen von der Seite herein und nur wer innen von den andern abgeschirmt wurde, blieb trocken. So froren wir etwa eine Stunde, bis das Unwetter durchfahren war. Durchnässt pennte ich an den Rucksack gelehnt im Sitzen ein.
Im tropischen Sonnenlicht des nächsten Morgens trockneten die Sachen schnell. Dann gab es Frühstück: trockener Reis, bittere Fischlederchen, heißes Wasser. Hatten wir diese Mahlzeit anfangs noch als ‚Basiserlebnis’ gewürdigt, mussten wir sie nun herunter würgen.
Zwei Stunden später wurde die Maschine leiser und die Fahrt verlangsamte sich. Plötzlich spuckte der Schornstein heißes Öl und mein grüner Rucksack, der dagegen lehnte, färbte sich schwarz. Im Schutze des Anoraks schnappte ich das Teil und floh auf den Bug, möglichst weit weg von dem spuckenden Ungetüm, das Feuer fangen und explodieren konnte. Hektik griff um sich. Capt’n und Besatzung kamen von unten hoch und rissen wie ums Überleben kämpfend das Oberdeck auf. Seile wurden gekappt, Planen abgerissen, Bretter flogen über Bord. Durch den Stress der Mannschaft angesteckt entstand in den unteren Decks Panik. Frauen heulten, Kinder krischen, Männer riefen vereinzelt nach Allah. Dann die Nachricht vom Super-GAU auf See: Das Boot war leck, Wasser drang ein! Was um Himmels willen war da unten passiert? Glücklicherweise war ein Inselchen in Sichtweite. Das Boot drehte und nahm Kurs darauf. Bangend hofften wir, es noch zu erreichen. Noch immer stotterte der Motor und machte etwas Fahrt. Der Capt’n stand an Oberdeck und brüllte sich die Lunge aus dem Hals. Säcke, Kisten, Koffer flogen wahllos über Bord, um die Last zu verringern. Inzwischen war das halbe Oberdeck freigelegt. Am Horizont sah man ein Schiff. Der Capt’n schoss eine Leuchtpatrone ab, die ohne jede Lichtabgabe ins Wasser plumpste. Weitere Patronen probierte er erst gar nicht. Im Kino wäre das lustig gewesen, doch diese Satire hier war echt. Ein Boot mit 400 Menschen und weder Funk, noch Rettungsboote, noch Leuchtpatronen. Ein Mitglied der Besatzung kletterte auf den Verschlag und wedelte wild mit einem weißen Tuch. Noch immer machte der Motor stotternd Fahrt. Säcke und Kisten bildeten eine Schlange hinter dem Kahn. Allein die näher kommende Insel wirkte sich beruhigend aus.
Es war ein winziges Traumeiland mitten im Meer von nicht mehr als 300 Metern Durchmesser. Ein alter Leuchtturm stand darauf. Ein großes Korallenriff und herrlicher Sandstrand umringten die wuchernde Vegetation in der Mitte. Mehr und mehr Menschen drängten nun aus der qualvollen Enge der Unterdecks nach oben, teils mit verzweifelten Gesichtern. Derweil kam ein Chinese auf uns zu und bat um ein Foto. Dann stellte er sich ins Chaos hinein und grinste heldenhaft in die Kamera. Plötzlich ein scharfer Ruck! Einige stürzten. Wir waren auf das die Insel umgebende Riff aufgelaufen. Der Kahn neigte sich auf die Seite. Der Anker fiel. Ein zweiter Ruck. Ich stürzte während eines Fotos, man musste höllisch aufpassen.
Bald begann der Transfer auf die Insel. Die meisten Angehörigen dieses Inselvolkes waren Nichtschwimmer. So spielten sich dramatische Szenen ab, als Familien mit Kindern auf die anderthalb Quadratmeter kleinen Holzkisten stiegen und wegen des Seegangs ins Wasser fielen. Ein kleines Kind plumpste ins Meer und musste herausgefischt werden. Ein Bübchen wurde von seiner Mutter getrennt und wollte dauernd ins Wasser hüpfen. Andere waren nicht kräftig genug, um der starken Strömung standzuhalten. Ihre Flöße trieben ab und schafften es erst gefährlich weit draußen, im Strömungsschatten des Eilandes auf Korallengrund zu gelangen. Ein junger Mann, der alleine schwamm, schrie um Hilfe und wurde mit einem Ring gerettet.
Neben diesen aufregenden Geschehnissen konzentrierte sich die Spannung auf das fremde Schiff. Zwar näherte es sich, hielt aber nicht direkt auf uns zu. Die Insel ohne baldige Bergung würde uns nicht lange helfen. Inzwischen erreichten die ersten das Land, es bildete sich eine Kette der Flöße. Fehler wurden gemacht. Statt zuerst die Nichtschwimmer, insbesondere Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen, wurden ganze Familien samt Gepäck transportiert. Die es geschafft hatten, ließen ihre Flöße im Wasser, sodass etliche abtrieben und verloren gingen.
Auf einmal sprach mich von hinten ein bezauberndes indonesisches Mädchen auf englisch an. »Hi, ich bin Margaret.«
»Ja, äh, hi! Ich bin Jo«, stotterte ich.
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich dich einfach so anspreche, aber ich kann nicht schwimmen«, sagte sie, »Kannst du mir helfen an Land zu kommen?«
Wer hätte da nein sagen können! Wie oft hatte ich so was schon in Filmen gesehen? James Bond rettet die Schöne! Das hier war die ganz große Chance. Ans Werk 007! Ich sprang ins Wasser und Margaret todesmutig hinterher. Doch ehe ich einen der üblichen Transportgriffe angelegen konnte, hatte das Mädchen mich schon umwürgt und versuchte panisch ihren Kopf über Wasser zu halten, selbst die kleine Halsschwimmweste ragte heraus. Damit aber drückte sie mich nach unten und ehe ich mich versah, war ich selber am Ersaufen. Doch so leicht wollte ich mich nicht geschlagen geben! Ich schnappte nur ab und zu unter Aufbietung aller Reserven Luft und tauchte voran. Schnell war ich am Ende meiner Kräfte und konnte von Glück sagen, dass gerade ein Floß vom Riff zurückkam. Ich lieferte Margaret dort ab und half noch mit, es zum Schiff zu bringen. Dann stieg ich beschämt und entkräftet an Bord zurück.
Nach einiger Zeit stellte sich ein ‚laisser-faire’ ein. Angesichts scheinbar sicherer Rettung wurden die Leute träge und langsam. Es kam, was kommen musste: Die Flut! Das Wasser stieg und überströmte das bisher freiliegende Korallenriff. Die Uferlinie entfernte sich zusehends. Vor allem nahm die Seitenströmung mächtig zu. Die nachlässige Trägheit von eben verwandelte sich blitzartig wieder in Panik. Nun stritt und schlug man sich um die wenigen verbliebenen Flöße. Schon gab es Schwierigkeiten die Dinger gegen die starke Seitenströmung zum Schiff zurück zu bringen. Ich schwamm zum Riff und lief mit einem Floß gegen die Strömung an. Dadurch ließ es sich ohne hohen Kraftaufwand noch zum Boot bringen. Da es eines der letzten Flöße war, entbrannte ein verbissener Streit darum. Ich hatte Mühe wieder an Bord zu gelangen und schnitt mir am Geländer den Unterarm auf. Das war der Dank! Beim Versorgen der Wunde fiel mir jener juristische Lehrfall ein, über den wir immer geschmunzelt hatten, weil er am Schreibtisch entwickelt zu sein schien. Es war der Fall der zwei Schiffbrüchigen auf der Planke, die nur einen trägt. A wirft B herunter, der ertrinkt. Frage Totschlag? Das war der Standardfall, in dem der Täter durch den entschuldigenden Notstand straflos bleibt. Was wäre wohl passiert ohne die Insel, mit 400 Menschen an Bord und Flößen für 130?
Inzwischen war das fremde Schiff auf 500 Meter heran gekommen. Offenbar hatte es unsere Lage erkannt. Es war nun früher Nachmittag und die nächste Ebbe würde erst bei Dunkelheit einsetzen. Hemo und ich bereiteten uns auf eine Nacht an Bord vor. Da entdeckten wir, dass die zwei untersten Decks überflutet waren. Mit jeder der höher werdenden Wellen schwappte nun mehr Wasser an Bord. Zudem bekam es zunehmend Schlagseite. Besorgnis kam auf. »Hemo, was meinst du, ist es okay, über Nacht an Bord zu bleiben oder versinkt der Kahn am Ende?«
»Ja mei, i weiß net. I will halt des Gepäck net so gern allein lassen.«
»Hast Recht. Und schwimmen können wir ja immer noch.«
Wir erbeuteten in herumliegenden Taschen Nahrungsmittel und füllten die Wasservorräte aus den Bordkanistern auf. An das Überleben der nächsten Tage musste gedacht werden. Eine junge Frau stand an der Reling und heulte. Ich versuchte sie zu trösten, indem ich die Gefahr herunterspielte und Witze machte. Unter einem überdachten Teil des Bootes richteten wir ein Lager ein, so gut das bei der Schieflage möglich war. Das Wasser hatte inzwischen das nächste Deck erreicht. Die Frage war, wie hoch die Flut steigen und wie stark der Seegang werden würde. Gegen 18 Uhr wurde es dunkel. Vom Leuchtturm der Insel war nichts zu sehen, er war außer Betrieb. Allerdings brannten Feuer, sodass die Umrisse der 300 bis 400 Meter entfernten Insel gut auszumachen waren. Wir legten uns in die Schlafsäcke und lauschten dem Knarren des Schiffes. Nach einiger Zeit kam Regen auf. Links von uns, wo es kein Geländer gab, spritzten die Wellen bereits auf unser Deck. Langsam bereuten wir, nicht bereits auf die Insel geschwommen zu sein. Lagen wir noch auf dem Riff und die Flut stieg oder wurde das Schiff abgetrieben und wir sanken? Dann waren die an Bord gebliebenen Nichtschwimmer verloren. Ein schrecklicher Gedanke. Noch immer waren über 100 Menschen auf dem Wrack. Inzwischen regnete es heftig und der Wind blies in unsere Ecke. Wir hielten Anoraks und Regenponchos über uns. Was nun folgte, ist ein exorbitantes Beispiel für die Verdrängungskraft der menschlichen Psyche.
Spontan fingen wir zu singen an und steigerten uns in eine Bombenstimmung. Wir grölten und klatschten, von Seemannsliedern über Schlager zu Discotiteln bis zum Hardrock. Bei ‚Rock around the clock’ von Bill Haley war unsere Stimmung am Überkochen, da war jede Faschingsparty langweilig dagegen. Gleich dreimal sangen wir – Hemo war ja Bayer – das berühmte Kufsteinlied: »Kennst du die Berge, die Berge Tirols? Das Städtchen Kufstein, das kennst du wohl…« und zu »Oh when the saints go marchin in« dichteten wir spontan »And when the ship begins to sink« und brachen in ein wildes Gelächter aus. Es war herrlich, dem Schicksal ins Gesicht zu lachen. Die Indonesier starrten uns entsetzt an, hielten uns für vollkommen übergeschnappt. Nachdem uns Texte und Ideen ausgegangen waren, kehrte die Realität zurück. Das verspottete Schicksal schien sich nun rächen zu wollen und zwar in Form steigenden Wassers, das bei hohen Wellen bereits an unsere Füße schwappte. Aus dem Regen war ein tosendes Gewitter geworden. Die Wellen klatschten gegen die Bordwände, das Schiff schaukelte heftig. Im Licht der Blitze sah man den vorderen Teil und den Mast. Es war beängstigend zu sehen, wie stark er gegen unseren Teil schwankte. Das gegeneinander Schaukeln barg die Gefahr, dass das Schiff zerbrach. Plötzlich ein gewaltiges Krachen! War es soweit? Die nächsten Blitze brachten Klarheit. Das oberste Deck im mittleren Teil des Schiffes war eingebrochen, Opfer der Wucht des Meeres. Ungehindert rollten die Wellenberge jetzt mitten durch das Schiff. Einen Verbindungsweg vom Bug zum Heck gab es nicht mehr. Wie lange würde es dauern, bis der Rest barst? Das Inferno steuerte seinem Höhepunkt entgegen. Die Welt war ein infernalisches Getöse aus knarrendem Holz, anstürmenden Wellenbergen, krachendem Gewitterdonner, tobenden Winden und prasselndem Regen. Erregt sah ich im Licht der Blitze den von peitschenden Wassermassen umtosten, heftig wankenden Bug, an dem sich verzweifelte Menschen gegen ein tödliches Herabfallen festklammerten. Nie sah ich ein gespenstischeres Bild! Um uns herum züngelte eine pechschwarze Masse, eine riesige Lava, die nur darauf wartete, uns in ihre abgrundtiefe Schwärze hinab zu ziehen. Das so vertraute Badeelement erschien wie der Schlund eines urtümlichen Lebewesens, ja das Antlitz des Todes selbst! Mit Schaudern dachte ich daran, dort hinein gerissen zu werden und mit jedem Schwimmzug gegen ein blindes Ersticken kämpfen zu müssen. Mit Schrecken wurden wir gewahr, dass die Insel nicht mehr zu sehen war, die Feuer erloschen, im Regen verschwunden. In welche Richtung schwimmen, falls es nötig wurde? Wie lag das Schiff? Lag es überhaupt noch auf dem Riff? In welche Richtung ging die Strömung? Wir machten uns nichts mehr vor. Wir würden schwimmen und schwimmen und uns am nächsten Morgen auf offener See wiederfinden. Aus der gesicherten Lage von heute Mittag war plötzlich wieder Lebensgefahr geworden.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als der tropische Sturm langsam abflaute und sich das Wasser zurückzog. Der ‚Angriff’ war überstanden. Um Mitternacht war es beinahe wieder ruhig zu nennen, etwas später lagen wir fest auf dem Riff. Wir konnten die Glieder ausstrecken und schlafen.
Wir erwachten vor Sonnenaufgang. Die Insel war noch da, eine beruhigende Feststellung. Nur das fremde Schiff war fort, hoffentlich holte es Hilfe. Die Vormittagsflut verlief ruhig und ohne Gefahr. Wir sicherten die Wertsachen gegen Nässe. Mit einsetzender Ebbe trafen die ersten Flöße ein und der Transfer begann. Zur Mittagszeit betraten wir samt Gepäck den herrlichen Sandstrand. Robinsonade in der Südsee, wow! Meine Sachen hatten Salzwasser abbekommen, vor allem die Kamera war stark beschädigt. Sogleich begannen wir in teutonischer Manier ein Lager herzurichten. Mittels geliehener Machete schlugen wir ein Wurzelgeflecht frei, bedeckten es mit Ästen und dichteten es mit Plastiktüten, Anoraks und Ponchos ab. Als stolze Hüttenbesitzer ließen wir uns von Neugierigen bewundern. Bald war eine Feuerstelle eingerichtet und die Hängematte fand ihren Platz. Zum Abendessen teilten wir uns eine der erbeuteten Trockensuppen. Genüsslich gingen die letzten zwei Bierdosen drauf. So war das Schiffbrüchigen-Dasein gut auszuhalten. Eine ernste Sorge stellte nur der Wasservorrat dar. Am Ende des Tages hatten wir noch zwei Liter und auf der Insel gab es nichts. Wenn nicht bald Regen kam, würde der Aufenthalt zum Survivaltrip werden.
Es wurde eine harte Nacht. Zwar gab es keine Moskitos, aber für zwei Personen und die Rucksäcke war die Hütte zu klein. So lagen wir mit angewinkelten Beinen aneinander gedrängt und schwitzten in der stickigen Luft. Der Sandboden in Verbindung mit einem frischen Sonnenbrand, der Durst und die stacheligen Äste, aus denen die Hütte zusammengesetzt war, taten ein übriges. Auf die Idee uns raus an die frische Luft zu legen kamen wir nicht.
Der dritte Tag brach an. Zum Frühstück gönnten wir uns ein Döschen Sardinen und eine Hand voll Erdnüsse. Der Himmel war tiefgrau und versprach Regen. Mit einem Mal goss es Wolkenbrüche und die gesamte Insel brach in Jubel aus. Beglückt sprangen wir in Badehose umher und tanzten wie die Kinder des Paradieses. Binnen Minuten war ein Eimer mit Wasser gefüllt und als uns nach einer Weile kühl wurde, sprangen wir ins Meer und genossen seine relative Wärme, den Mund zum Trinken geöffnet. Nach dem Abebben des Sturms kochten wir uns eine Suppe. Margaret, das Mädchen, das ich zu retten versucht hatte, brachte uns eine Kanne heißer Schokolade. Hunderte Dosen Kakao waren von Bord geborgen worden. Sie hatte mir mein Versagen also nicht übel genommen. Robinson auf einem Traumeiland und ein süßes Mädchen bringt einem heiße Schokolade vorbei. Nie hätte ich gedacht, so etwas erleben zu dürfen. Hemo ging es schlechter, bei ihm überwogen Angst und Unsicherheit.
Das Regenwetter hielt noch eine Zeit an, aber schon am Nachmittag brach die Tropensonne wieder voll durch. Wir badeten, erforschten die kleine Insel, sammelten Muscheln oder faulenzten in der Hängematte, ‚Erzählungen’ von Hermann Hesse lesend, die Hemo dabei hatte. Ab und zu besuchten uns Margaret und ihre Schwester. Margaret interessierte sich offenbar für mich, was mir Kummer bereitete. Wir lebten ja auf verschiedenen Seiten der Welt und konnten ja doch keine gemeinsame Zukunft haben. Himmel, war man denn nicht mal als Schiffbrüchiger vor solchen Problemen gefeit? Oft kamen auch andere Indonesier vorbei, mit denen wir in Englisch, unserem kümmerlichen Indonesisch oder Zeichensprache palaverten. Abends wurden wir zu einem Essen eingeladen, das sich sehen lassen konnte: Reis, Dosenfisch und Tomatensoße, ein Prachtmahl. Im Schlafsack unterhielten wir uns, die Sterne funkelten und die Milchstraße verbreitete ihre glitzernde Pracht über den gesamten Himmel. Im Geräusch der langsam gegen den Strand plätschernden Wellen schliefen wir ein.
Der vierte Morgen begann mit einem Sprung ins Meer. Dann folgte ein weiterer sonniger Tag im Paradies. Jemand schenkte uns vier Schildkröteneier, man hatte ein Nest gefunden. Wir verbuddelten sie wieder, da wir wussten, wie gefährdet diese Tiere sind. Einige Indonesier stritten sich so um die Eier, dass die Hälfte dabei zerstört wurde. Wir waren empört, durften uns als Gäste des Landes aber wohl nicht einmischen. Die Indonesier verstanden es, blaumündige Muscheln aus dem Riff zu schlagen, die über Feuern gebraten wurden. Am Nachmittag kam es zu einem Ereignis, das alle wachrüttelte. Ein Flugzeug überflog die Insel mehrfach in geringer Höhe. Wieder jubelten alle und rannten zum Strand, um zu winken. Damit war endgültig klar, dass man von uns wusste und Rettung bald eintreffen würde. Am Abend kam es hinter unserem Lager zu einem witzigen Vorfall. Irgendetwas raschelte im Gebüsch. Als wir mit der Taschenlampe hinleuchteten, tauchte ein riesiger Hummer auf, vor dem wir im ersten Moment erschraken. Mit seinen überdimensionalen Zangen schlitzte er gerade unsere Kakaodose auf. Ertappt zog er sich ins Gebüsch zurück.
Der Vormittag brachte erneut Regen, sodass die Trinkwasservorräte aufgefüllt werden konnten. Hemo rannte lange in Badehose umher und holte sich glatt eine Erkältung. Der Nahrungsmittelvorrat neigte sich dem Ende zu, wir opferten die aufgesparte Büchse Schweinefleisch. Kaum hatte der Regen aufgehört, brandete großer Jubel auf. Auf der anderen Seite der Insel war ein riesiges Marineschiff eingetroffen. Ein Boot mit Soldaten steuerte auf uns zu. Während alle dorthin rannten, setzte sich Margaret zu mir in die Hängematte. Für einen glücklichen Moment schaukelten wir schweigend miteinander. Ich legte den Arm um sie und der Gedanke ging mir durch den Kopf, wie es wäre, mein Leben nicht in Deutschland, sondern hier zu verbringen. Bald kam ein Einheimischer und störte uns.
Die Soldaten brachten Säcke voller Reis mit und alle schlugen sich den Magen voll. Fast bereuten wir nun, dass die Rettung so schnell gekommen war. Gern hätten wir das Inselleben noch ein paar Tage genossen. Wir lagen bereits im Schlafsack, als Hemo mit Sand beworfen wurde. »Hey, stop it«, rief er empört, doch der dreiste Angreifer machte einfach weiter. Hemo wurde sauer und brüllte: »Hey! Du Bastard!!!« Wir sprangen auf, um den Übeltäter zur Rechenschaft zu ziehen und entdeckten im Mondlicht eine Riesenschildkröte, die ein Loch für ihre Eier aushob.
Am nächsten Morgen trafen zwei weitere Marineschiffe ein. Alle Schiffbrüchigen wurden im Laufe des Tages an Bord gebracht. Dort war bereits alles überfüllt und wir hatten Glück, in der Mannschaftsmesse sitzen zu dürfen. Es gab Reis und Spiegelei. Dann begann die Abfahrt nach Paré-Paré, unserem ursprünglichen Fahrtziel. Das kleine Traumeiland, welches für sechs Tage unser Zuhause gewesen war, entfernte sich rasch und versank im Horizont. Adieu Puhlau Sambit! Die kleine Insel war mit einem drei Meilen entfernten Nachbareiland der einzige Flecken Land in hundert Meilen Meer. Wir hatten riesiges Glück gehabt, gerade hier zu verunglücken. Zehn Schiffe versinken Jahr für Jahr in der Makassarstraße, die Reedereien fahren sie einfach so lange, bis sie absaufen. In unserem Falle aber überlebten alle Passagiere der gesunkenen ‚Nurlima 7’, die unsere Titanic geworden war.
Der nächste Tag war heiß und sonnig. Apathisch lagen die Geretteten an Oberdeck herum, man konnte kaum gehen, ohne auf Arme und Beine zu treten. Margaret brachte ein Schachspiel mit, konnte selber aber gar nicht spielen, sodass ihre Landsleute einsprangen. Nachmittags kam Seegang auf. Viele mussten sich übergeben. Es wurde Nacht. Als ich erwachte, liefen wir gerade in den Hafen von Paré-Paré ein. Noch vor Sonnenaufgang setzten Hemo und ich die Rucksäcke auf und gingen von Bord. Wo war Margaret? Wir mussten uns doch verabschieden und Adressen tauschen. Eine Stunde lang blieben wir bei dem Schiff und beobachteten die von Bord Gehenden. Da sah ich von hinten ein Mädchen im roten Pullover. »Margaret«, rief ich, doch als sie sich umdrehte, schaute mich eine Fremde an. Nach und nach leerte sich die Pier. Margaret war mit ihrer Familie längst fort und wir sahen uns niemals wieder.
Die Reise ging noch einige Monate weiter, führte über Bali, Java und Malaysia bis Thailand, China und auf die Philippinen, wo ich am Ende mit Windpocken im Krankenhaus von Manila strandete. Im Heft 5/84 der Zeitschrift ‚Abenteuer und Reisen‘ erschien meine Reportage über das Schiffsbrucherlebnis, Hemo steuerte die Fotos bei, da seine Kamera unbeschädigt geblieben war. Wir trafen uns noch zweimal, später erfuhr ich, dass er eine Zeit lang auf Gomera lebte, dort seine Traumfrau traf und eine Familie gründete. 1998 schickte er mir seine erste selbst produzierte CD ‚Antretter – Impressions & Images‘, wofür ich ihn bewunderte. Danach verlor sich unser Kontakt in den Herausforderungen des täglichen Hamsterrades, aus welchem sich unser Leben zusammensetzt.
Die Erinnerung an unser Schiffbruch-Abenteuer aber, dessen bin ich gewiss, werden wir beide zeitlebens in unseren Herzen bewahren.